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Kreuz, Benzin
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Große Kunstschau, Worpswede 2012

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Das KREUZ

XXIII Biennale die Gubbio 1996/97,
Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof, 1997

Die Entwicklung der Beschleunigung des Menschen, vom Gehen, Fahren, Fliegen, bis hin zum digitalen Überall-Sein-Können hat nicht nur unser Zu-Hause-Sein, unsere Ort- und Landschaften, Ökonomie und Politik, sogar Pflanzen, Tiere und Klima verändert sondern auch unser Bewusstsein. Wie Paul Virillio in seinem Buch „Der negative Horizont“ sehr anschaulich beschreibt, dreht sich die Perspektive um: wir sind nicht mehr in der Welt, die Welt wird durch die Geschwindig-keit, mit der wir uns in ihr bewegen, zu einer Projektion auf dem Interface, das wir zwischen das Reale und dessen Wahrnehmung geschaltet haben. 

Im Auto ist es die Windschutzscheibe, die jetzt wie eine Filmleinwand funktioniert und das Realitätsprinzip außer Kraft setzt. Inzwischen sind wir gezwungen, uns technisch an unsere menschliche Wahrnehmung erinnern zu lassen, um nicht völlig abzuheben. Erst wenn dieses System angehalten wird, durch einen Unfall zum Beispiel, wird dieser Perspektivwechsel – manchmal schmerzhaft – deutlich. Aus seiner Systemschlüssigkeit herauskatapultiert wird das Ausmaß der Deformation erkennbar, die die beschleunigte Bewegung hervorgerufen hat.

Jost Wischnewski ist als Fotograf immer wieder angehalten und ausgestiegen und hat die andere Perspektive, das andere Bild festgehalten, das bleibt, wenn der Verkehr vorbei ist: eine Verkehrs-architektur im Stillstand, übriggeblieben, immer in Erwartung, befahren zu werden. Personen kommen deshalb auf seinen Bildern nicht vor, sie sind unsichtbar, eingebaute Teile ihrer Mobile und Mobilität.

Als Bildhauer interessieren ihn die durch die Ideologie der Geschwindigkeit deformierten und in ihren Dimensionen funktionalen Architekturen und Objekte. Ist man einmal gezwungen, auf einer Autobahn über eine Leitplanke zu steigen, spürt man diese Un-Proportion. Leitplanken sind wie an die Seiten verlegte Schienen des Autoverkehrs. Sie haben ihre Logik und Form aus der Energie, der sie Widerstand leisten sollen, nicht aus dem Körper des Menschen. Sie sollen die Autos – selbst bei einem möglichen Unfall – in der Bahn halten.

In „Das Kreuz“, 1996/97, deplatziert Jost Wischnewski zwei Leit-planken, verlegt sie über Kreuz in ein Gebäude. Diagonal fast bis zu den Wänden geführt, versperren sie jeden Weg. Entlanggeführt muss man das Kreuz absurderweise übersteigen. Die Leitplanken wider-stehen gleichzeitig allen Bemühungen, aus ihnen etwas anderes zu machen als Leitplanken. Das Zitat des Gegenstandes in seiner originalen Form und Material ist zu stark.

 

Dagegen lässt sich das Kreuz als christliches Symbol zum Beispiel nur aus einer Deutung heraus wahrnehmen, aus der Form des menschlichen Körpers, dem Rechts-Links und Oben-Unten, Norden-Süden und Osten-Westen, als die Herstellung eines unendlich kleinen Punktes göttlicher Koordinaten – oder als mathematischer Graph aus der Definition eines Punktes, der sich aus der endlosen Bewegung zweier Punkte als Linie (nicht als Strecke) in jeweils beide Richtungen und deren Überschneidung ergibt.

 

Als Skulptur gesehen und ernst genommen wird der eigene Körper dann wieder tatsächlich gefordert. Im Drumherum-Gehen-Wollen und Übersteigen spürt man die absurde Führung. Die funktionale Banalität und Schlüssigkeit stört sich an dem Unvermögen, mit diesem Objekt (im wörtlichen Sinne) umgehen zu können – ein produktiver Kurzschluss.

Bernhard Balkenhol, Kassel 2012

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