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ÜBER LEBENSSPUREN

Heinrich Vogeler Stiftung, Worpswede 2021

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Die Aktion als Haltung

Die von Franz Pfemfert herausgegebene Zeitschrift „Die Aktion“, die bekanntlich dem Expressionismus im deutschsprachigen Raum erfolgreich als literarische Plattform diente, erschien von 1911 bis 1932. „Die Aktion“ war aber mehr als „nur“ eine Zeitschrift für ästhetische Fragestellungen, sie diskutierte vor allem auch politische Themen wie zum Beispiel soziale Gerechtigkeit, gleiche (Wahl)Rechte für Frauen, Antisemitismus und internationalistische Friedenspolitik. Franz Pfemfert schrieb programmatisch gleich in der ersten Ausgabe: „Die Aktion tritt, ohne sich auf den Boden einer bestimmten politischen Partei zu stellen, für die Idee der Großen Deutschen Linken ein“.

 

Im Jahre 2013, also etwa ein Jahrhundert später, wurden auf dem Dachboden von Martha Vogelers Wohnhaus im Haus im Schluh bei Renovierungsarbeiten von Handwerkern zwei Kisten mit zwei Konvoluten von expressionistischen und gesellschaftspolitischen Zeitschriften gefunden, alle erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts, viele von ihnen standen den damaligen Lebensreformbewegungen nahe. Diverse Ausgaben der „Aktion“ waren in den beiden Kisten, außerdem zum Beispiel Hefte der Magazine „Der Gegner“, „Die neue Generation“ und die „Vierteljahresschrift für soziale Fürsorge“. Einige der Publikationen waren von Martha Vogeler handschriftlich mit ihrem Namen ausgezeichnet, so etwa eine Ausgabe der von Maximillian Harden herausgegebenen Zeitschrift „Die Zukunft“. Heinrich Vogeler publizierte selbst in einigen der auf dem Dachboden gefundenen Zeitschriften, wie zum Beispiel in der Doppelnummer 43/44 der „Aktion“ aus dem Jahre 1920. Offensichtlich also waren beide Vogelers engagiert an den damaligen emanzipatorischen Diskursen beteiligt.

 

Nomen est omen: Schon mit ihrem Titel ruft die Zeitschrift „Die Aktion“ auf zum (politischen) Handeln. In diesem Sinne forderte in den frühen 1930er Jahren schon Carl Einstein, der mit seiner Schrift „Die Negerplastik“ noch 1915 dem Kubismus das theoretische Fundament geliefert hatte, die Aktion als unbedingt notwendig um Realität zu verbessern. In seiner Schrift „Die Fabrikation der Fiktionen“ kritisierte Carl Einstein nämlich eine Kunst, die sich auf das Abbilden von Veränderung beschränkt und nicht zur politischen Tat schreitet: [Wir] „wähnten im Zeichen schon die Welt abzuändern. Man hatte über vieldeutigen Bildern das Sein vergessen und glaubte, der Wechsel der Imagination bewirke die tatsächliche Veränderung des Seins“. Genau diesen Fehler der Alleinstellung der Bildproduktion begangen Martha und Heinrich Vogeler damals nicht. Die aktive Handlung nämlich, eine, die der rein bildlich orientierten Tätigkeit zur Seite stand, nahm bei ihnen auf der Tagesordnung bald einen festen Platz ein. Martha Vogeler ist daher bis heute bekannt für ihre engagierte, wie man heute sagen würde, „feministische“ Arbeit, leidenschaftlich stritt sie für die Gleichberechtigung der Frau. So lud sie zum Beispiel bereits 1918 in die Schule von Ostendorf zu einer „Frauen-Versammlung“ ein, in der über „Frauenstimmrecht, Mutterschutz und Völkerfrieden“ gesprochen wurde. Auch in dem von ihr initiierten Haus im Schluh in Worpswede wurde um die Emanzipation der Frau gekämpft, dieses nicht zuletzt dadurch, dass jungen Frauen das Erlernen des Webens ermöglicht wurde, wodurch sie größere wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangten. Übrigens setzte sie auch unter den erschwerten Bedingungen der Zeit des Nationalsozialismus diese Bemühungen fort. Heinrich Vogelers politische Arbeit setzte spätestens im 1. Weltkrieg ein, als er 1918 einen Friedensappell an Kaiser Wilhelm II. schrieb. Entschlossen kämpfte er fortan für die Interessen der Arbeiterschaft, wurde im selben Jahr Mitglied des „Arbeiter- und Soldatenrates“ in Osterholz, und gründete 1919 auf dem Worpsweder Barkenhoff eine Kommune und Arbeitsschule. 1923 dann wurde der Barkenhoff umfunktioniert als Kinderheim der „Roten Hilfe Deutschlands“. 1925 trat der Künstler in die Kommunistische Partei ein, 1931 siedelte er in die Sowjetunion über.

 

Jost Wischnewskis Rauminstallation „Über Lebensspuren“ setzt die eben von mir skizzierte Geschichte, diese Spuren zweier (Über)Leben, in einen spannungsreichen Dialog mit unserer Gegenwart, einer Gegenwart, in der all die von den beiden Vogelers be- und verhandelten Themen leider nichts von Brisanz eingebüßt haben: Die soziale Ungerechtigkeit hat sich in der neoliberalen Gesellschaft weiter verschärft, ein („internationalistischer“) Weltfrieden ist in weite Ferne gerückt und, die Me-too-Bewegung nicht zuletzt macht es deutlich, die Rechte der Frauen sind längst noch nicht den Vorrechten der Männer angeglichen.

 

Im Zentrum der Rauminstallation „Über Lebensspuren“ steht das gleichnamige Video von Jost Wischnewski. Im seinem ersten Teil sind ausgewählte Zeitschriften aus besagtem Dachbodenfund neben- und aufeinander gelegt zu sehen. Die historischen Zeitschriften wurden gefilmt aus der Vogelperspektive, die Aufnahme dreht sich im Uhrzeigersinn, später, überblendet, entgegen diesem. Zu hören ist Musik aus dem Film „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1931. So spielt diese Sequenz nicht nur auf Filmexperimente des frühen 20. Jahrhunderts an, sondern thematisiert mit der Rückwärtsbewegung des Uhrzeigersinns vor allem die „Nichtentwicklung“ von Zeitabläufen. Wie gesagt: die in den teilweise 100 Jahre alten Zeitschriften behandelten politischen Fragen sind heute immer noch aktuell. Schnitt: Die nächsten Einstellungen zeigen mit Fotos und Textinserts, dass Martha und Heinrich Vogeler an eben diesen Problemen interessiert waren und gegen diese Probleme angearbeitet haben. Wiederum Schnitt: Die Videoabschnitte werden durch eine kurze Einstellung unterbrochen, in der ein Auto durch eine Waschstraße fährt. Beim sich Reinwaschen tappt der Wagen gleichsam symbolträchtig im Dunkeln.

 

In der Folge werden dann drei aktuelle künstlerische Positionen und ihre Arbeiten in dem Installationsfilm vorgestellt. Wie die alten Zeitschriften werden auch diese Arbeiten aus der Vogelperspektive und im sich gegenläufig drehenden Bild gefilmt. Es handelt sich bei den drei Positionen um Klaus Staeck, längst ein „Urgestein“ der politischen Kunst aus Deutschland, um die feministische und dezidiert antirassistische Künstlerin, Regisseurin und Theatermacherin Hannah Schassner und um den Bildhauer und Aktionskünstler Heinz Baumüller, der unter anderem mit kritisch konnotierten „Schriftblättern“ wie etwa dem Antikriegswortspiel „Armeerika“ auf sich Aufmerksam macht. Die in der Installation gezeigten Filmcollagen mit Plakaten von Klaus Staeck, Theaterplakaten von Stücken Hannah Schassners und Schriftblättern von Heinz Baumüller stellen eine Klammer her zu den politisch-künstlerischen Aktivitäten der beiden Vogelers. Und auch die dazu zu hörenden Statements der drei Kulturschaffenden betonen diese Kontinuität. O-Ton Klaus Staeck: „Wenn man die Verhältnisse betrachtet, ob sie sich wirklich verändert haben, dann muss ich sagen: nein“. Hannah Schassner betont die Aktualität der Frauenfrage, wenn sie betont, im Theater unter anderem verhandeln zu wollen „mit welchen Widersprüchen Frauen heute umgehen“. Und Heinz Baumüller erinnert an die Notwendigkeit der Aktion, wenn er uns erzählt, dass er in Österreich fünf Jahre als Bundespräsident kandidiert hat, „um die Einführung der direkten Demokratie“ zu forcieren, schließlich „wissen wir doch Alle, was gut ist für uns und die Umwelt“. Wieder werden die Abschnitte der drei Künstler durch die Fragmente des durch die Waschstraße fahrenden Autos unterbrochen.

 

Zu sehen ist der Film „Über Lebensspuren“ auf einem sich gegen den Uhrzeigersinn drehenden und in Augenhöhe hängenden Monitor. Auf der Rückseite des Monitors ist ein Spiegel angebracht, so dass sich der Besucher während der Drehbewegung des Monitors immer wieder selbst quasi im Bild sieht. An den Wänden des Raumes sind Fotografien der Zeitschriften aus dem Dachbodenfund sowie die der Arbeitsbeispiele von Klaus Staeck, Hannah Schassner und Heinz Baumüller aus dem Film noch einmal zu sehen, gleichsam in „feststehender Einstellung“. So ist das Bildmaterial für den Besucher in aller Ruhe zu rezipieren. Zwischen diesen gerahmten Fotoarbeiten sind ebenfalls Spiegel angebracht, die den Besucher dann noch einmal hinein in den hier inszenierten Diskursraum holen und ihn auffordern seine eigene (politische) Rolle im Kontext der hier aufgeworfenen Fragen zu überdenken.     

 

Am Ende des engagierten und intelligenten Installationsvideos von Jost Wischnewski könnte dann gleichsam Licht am Ende des Tunnels erscheinen, denn schließlich hat das Auto seine Fahrt durch die Waschstraße geschafft – doch wirklich heller wird es leider nicht ...

Raimar Stange, Berlin 2021

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